Werden Anwälte durch Legal Tech überflüssig? Buchbesprechung von “The Future of Professions”

Für alle, die sich näher mit dem Thema der Auswirkungen von Technologien auf die freien Berufe (einschließlich Anwälten) auseinandersetzen möchten, ist Richard und Daniel Susskinds neues Buch The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts (2015) ein Muss und wärmstens zu empfehlen. Richard Susskind wird einigen Lesern bereits von seinen Büchern The End of Lawyers? (2010) und Tomorrow’s Lawyers: An Introduction To Your Future (2013) bekannt sein. Richard Susskind ist einer der profiliertesten Vordenker auf diesem Gebiet. Bereits seit den 1980er Jahren beschäftigt sich Susskind mit der Frage, wie Technologien die Rechtsbranche verändern werden. Er hat insgesamt neun Bücher veröffentlicht, die sich der Schnittstelle Recht und Technologie (Legal Tech) widmen. Ihn treibt der Wunsch an, “to make scarce […] expertise and knowledge more widely available and more easily accessible”.

Für sein neues Buch hat er sich mit seinem Sohn, Daniel Susskind, einem aufstrebenden Akademiker an der Oxford University, als Mitautor zusammengetan. Ein nicht ganz gewöhnliches Unterfangen, wie die beiden auch bereits im Vorwort unumwunden zugeben. Dem Buch schadet es nicht, auch wenn man sich daran gewöhnen muss, dass die Autoren ausschließlich in der Wir-Form schreiben, auch wenn es ganz offensichtlich nur um die Meinung oder das bisherige Werk eines Autors geht. Beeindruckend ist aber zu sehen, wie sich Vater und Sohn offensichtlich positiv beeinflussen. Ich halte dieses Buch der Susskinds für das beste von Richard Susskind. Auch der Vater scheint von der Arbeit (und auf seinen Sohn) zu Recht stolz zu sein, wenn er bemerkt: „The work with my son […] has been the high point of my working life“.

Die beiden Autoren beginnen ihre tiefschürfende (aber niemals langatmige) Analyse damit, den „Grand Bargain“ zwischen den freien Berufen (Anwälte, Ärzte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Architekten und Journalisten einschließlich der Lehr- und Managementberufe) und der Gesellschaft näher zu beschreiben. In den Augen der Autoren hat dieses „Grand Bargain“ zur Folge, dass die freien Berufe bestimmte Privilegien der mittelalterlichen Gilden und Zünfte bis in die Gegenwart retten konnten. Freie Berufe genießen als Teil dieses Deals ein hohes Maß an Selbstbestimmung und gesetzlich garantierte Monopole. Von ihnen wird im Gegenzug erwartet, so die Autoren, dass sie ihren Beruf mit einem Höchstmaß an Wissen, Ehrlichkeit und Anstand erbringen. Das Interesse der Kunden sollte vor das eigene Interesse gehen. Freie Berufe vermitteln Wissen und Dienstleistungen, die der gemeine Bürger allein nicht bewältigen kann. Dieser „Konsens“ wird von den Autoren grundsätzlich in Frage gestellt, da es aus ihrer Sicht zu folgenden Fehlentwicklungen kam und kommt:

  1. Die freien Berufe sind zu teuer. Kaum einer kann sich die teuren Dienste eines erstklassigen Freiberuflers leisten.
  2. Die freien Berufe setzen zu wenig Technologien ein, um das vorhandene Wissen zu sammeln und zugänglich zu machen.
  3. Die freien Berufe haben eine Tendenz, Leute davon abzuhalten, sich selbst Gedanken über ihre Probleme zu haben. Kunden werden entmutigt, nicht selbst in die Problemlösung einzusteigen, da die Materie zu kompliziert sei.
  4. Freiberufler entwickeln zu wenig günstigere, bessere und schnellere Alternativen zu ihren bisherigen Dienstleistungen und zur Wissensvermittlung.
  5. Die freien Berufe haben die Tendenz undurchschaubar zu sein und eine gewisse „Mystifizierung“ auszunutzen, um ihre Dienste anbieten zu können.

Von dieser teilweise recht negativen Einschätzung der freien Berufe, führen die Susskinds aus, warum es zu tiefgreifenden Veränderungen kommen wird und muss. Der wichtigste Treiber ist hierbei die technologische Entwicklung, die gewissermaßen die Grundlage bzw. Ursache für weitere Entwicklungen und Trends sein wird. Die Auswirkungen von Technologie auf die freien Berufe lassen sich nach den Autoren in zwei Kategorien, Automatisierung und Innovation, fassen. Automatisierung ist die Bestrebung bestimmte bislang manuelle oder administrative Arbeitsabläufe zu optimieren, ohne dass traditionelle Arbeitsweisen aufgeben werden. Die Autoren beschreiben Automatisierung daher als die „comfort zone of technological change for most professionals“. Da es durch Automatisierung allein nicht zu umwälzenden Veränderungen kommt, fühlen sich Freiberufler durch diese Art von Technologien nicht bedroht oder herausgefordert. Hiervon grenzen die Autoren innovative Technologien ab, die eine Art von Service bieten, die ohne diese nicht möglich bzw. denkbar wäre. Durch innovative Technologien können also neue Dienstleistungen angeboten werden, die Freiberufler entbehrlicher machen oder diese gar ersetzen.

Welche technologischen Innovationen es zukünftig im Einzelnen geben wird, lässt sich nach Meinung der Autoren noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Eines ist aber klar, es wird technologische Entwicklungen geben, die auch die freien Berufe radikal verändern werden:

  1. Exponentieller Wachstum von Computerleistung. Die Susskinds berichten von Forschung nachdem im Jahr 2050 jeder Desktop-PC die Leistung aller menschlichen Gehirne zusammengenommen hat. Heute kaum vorstellbar.
  2. PCs werden immer „fähiger“. Sie können nicht nur Routinearbeiten sondern auch Aufgaben übernehmen, die Intelligenz, Geschicklichkeit und Erfahrung bedürfen. Die Autoren erwähnen hier beispielhaft Big Data, Artificial Intelligence, Robotics und Affective Computing.
  3. Die Anzahl der Geräte, die überall vorhanden und mit dem Internet verbunden sind (Smartphones, Wearables, Internet of Things etc.) werden exponentiell wachsen. Immer mehr Menschen werden über das Internet miteinander verbunden sein.
  4. Es wird immer größere Datenmengen geben.

Diese innovativen, technologische Entwicklungen (sowie der Kostendruck in vielen Branchen) werden aus der Sicht der Autoren dazu führen, dass immer weniger Anwälte (und andere freie Berufe) gebraucht werden. Computer und Maschinen werden ihre Plätze einnehmen, da diese besser und billiger als Menschen sein werden. Diese Verdrängung wird nach Meinung der Susskinds nicht „über Nacht“ stattfinden, sondern kontinuierlich über die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Automatisierende und innovative Technologien werden für längere Zeit auch parallel angewandt werden. Es kommt aber nicht nur zu einer Verdrängung, sondern auch zu neuen „Partnerschaften“ zwischen Mensch und Maschinen. Viele Maschinen werden ihr volles Potential nur in der Zusammenarbeit mit Menschen entfalten können (augmented intelligence). Wenn man einen Punkt an diesem Buch kritisieren möchte, hätten die Autoren hierauf einen deutlicheren Schwerpunkt setzen sollen. Das Verhältnis von Mensch und Maschine ist nicht “Schwarz-Weiß”, sondern in vielen Bereichen ein ergänzendes Verhältnis. Dies hätte noch konkreter beschrieben werden können.

Den Autoren ist bewusst, dass ihre Thesen auf breiten Widerspruch stoßen werden. Viele Freiberufler werden die aufgezeichneten Entwicklungen als Modeerscheinungen abtun oder grundsätzliche Zweifel daran anmelden, ob die Kernaufgaben der freien Berufe jemals von Menschen übernommen werden können. Werden Maschinen jemals in der Lage sein, die juristische Analyse eines Anwalts, die sich auf Erfahrung, Weltwissen, Gerechtigkeitsempfinden und gesunden Menschenverstand gründet ersetzen können?

Die Autoren gehen auf diesen Einwand (und auf viele weitere) ausführlich ein. Das zentrale Gegenargument der Susskinds ist, das sich in mehreren Variationen durch das Buch zieht, dass wir allzu schnell der „Artificial Intelligence Fallacy“ (AI Fallacy) aufsitzen. Mit der „AI Fallacy“ beschreiben die Autoren den Denkfehler, dass viele meinen, dass Maschinen wie Menschen denken müssen, um Menschen ersetzen zu können. Da es auch auf absehbare Zeit schwierig sein wird, dass menschliche Gehirn durch Technik nachzubilden, werden Maschinen bzw. künstliche Intelligenz – nach dieser Denkart – nicht in der Lage sein, menschliche Denkprozesse und Erfahrung jemals zu ersetzen. Nach der Auffassung der Susskinds greift diese Vorstellung zu kurz. Computer werden durch Anwendung neuer Technologien, wie z.B. Big Data und Brute-Force Processing in der Lage sein, ähnliche oder bessere Ergebnisse zu erzielen, wie der menschliche Denker. Maschinen werden auf „nicht-menschliche“ Art und Weise besser sein als Menschen. Und viele Innovationen in diese Richtung sind derzeit noch gar nicht absehbar. Hierauf weisen die Autoren gebetsmühlenartig hin: Vor 20 Jahren hat keiner die Bedeutung des Internets vorhergesehen. Somit ist es auch kaum möglich zu sagen, welche technischen Möglichkeiten im Jahr 2035 vorhanden sein werden. Eines ist laut Aussage der Autoren sicher, die Möglichkeiten werden bei Weitem das übersteigen, was wir uns heute vorstellen können.

Die Susskind sehen in den Prozessen, bei denen wohlmöglich einigen Lesern das Unbehagen besteigt, allerdings etwas grundsätzlich Positives. Freiberufler werden befähigt, ihren Kunden besser zu dienen und bislang ungedeckte Nachfrage zu decken, da durch den Einsatz von Technologie Dienstleistungen billiger angeboten werden können. Der große Trend wird aus Sicht der Autoren „Demystifizierung“ sein: Aufgaben, die nur bestimmte Berufsgruppen ausüben durften und ein Hauch von Geheimnis umwehte, werde für das breite Publikum geöffnet werden. Für die Susskinds etwas Gutes. Für sie liegt nämlich die Hauptaufgabe der freien Berufe darin, Wissen und Erfahrung für breite Bevölkerungsschichten zu erschließen.

Welche Rolle bleibt dem Anwalt oder anderen Freiberuflern aus der Sicht der Susskinds? Zum einen wird es weiterhin einen, wenn auch schrumpfenden, Bedarf an (menschlichen) Experten geben, die bestimmte Aufgaben erfüllen, die bislang von Computern und Maschinen noch nicht in zufriedenstellender Weise gelöst werden können. Zum anderen werden neue Aufgabengebiete entstehen, insbesondere an den Schnittstellen von freien Berufen und Technologien/Wissensmanagement. Data Science wird aus Sicht der Susskinds immer bedeutsamer werden.

The Future of the Professions ist insbesondere für Anwälte zu empfehlen, da es dazu herausfordert, ganz konkret über die Zukunft dieser Berufsgruppe nachzudenken. Das Buch lädt dazu ein, bereits jetzt zu überlegen, wie die Arbeit eines Juristen in 5, 10 oder 20 Jahren aussehen könnte. Die Susskinds postulieren gar eine moralische Pflicht sich mit den technologischen Entwicklungen auseinanderzusetzen, um dem Kunden bestmöglich bedienen zu können. Letztendlich mündet das Buch in einer relativ einfachen Frage, die jeder Anwalt für sich selbst beantworten muss: Ist es realistisch, dass die Juristenwelt angesichts von den massiven Umwälzungen durch innovative technologische Möglichkeiten, die es in anderen Wirtschaftsbereichen bereits heute zu beobachten gibt, verschont bleibt? Wird es so weitergehen wie in den letzten 50 Jahren? Hier mögen sich ganz unterschiedliche, individuelle Antworten finden lassen. Das Buch bietet eine wohltuend unaufgeregte Entscheidungsgrundlage, um sich mit fundiertem Wissen dieser Frage zu nähern. Nach der Lektüre des Buches wird es zumindest kaum noch möglich sein, die durch die technologischen Entwicklungen skizzierten Möglichkeiten und Trends auszublenden.