Retreat: A European Legal Design Jam in Frankfurt – Interview mit Tamay Schimang

von Nico Kuhlmann

Legal Design Thinking steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Doch die Methode könnte dabei helfen, auf zukünftige Herausforderungen im Rechtsmarkt strukturierter, umfassender und tiefgründiger zu reagieren. Legal Design ist dabei ein holistischer Methodenansatz, bei der die Denkweise von Designern auf juristische Fragestellungen übertragen wird.

Herr Tamay Schimang ist Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main für die Schlüsselqualifikation “Legal Tech & Innovation” sowie zusammen mit Henrik von Wehrs Mitgründer der Streamlaw GmbHJetzt veranstaltet Tamay Schimang zusammen mit Astrid Kohlmeier am 1. und 2. November unter dem Titel Retreat einen europäischen Legal Design Jam in Frankfurt.

Nico Kuhlmann: Lieber Tamay, was ist Design Thinking und warum sollten Juristen sich damit beschäftigen?

Tamay Schimang: Da muss ich kurz ausholen. Design Thinking ist eine inzwischen weithin anerkannte Methode der systematischen Problemlösung, der sich seit über einem Jahrzehnt die erfolgreichsten Unternehmen der Welt bedienen. Es gibt unzählige Beispiele über den Erfolg dieser Methode. Design Thinking folgt einigen Prinzipien:

Zuerst, der Nutzer steht konsequent im Mittelpunkt (sog. user-centricity). Das bedeutet, dass wir die Bedürfnisse des Nutzers, das Problem, das er lösen möchte und häufig selbst nicht definieren kann, in aller Tiefe verstehen und damit weit über den aus Kanzleien bekannten “Mandantenfokus” hinausgehen.

Zudem ist Design Thinking ein iterativer Prozess, der darauf ausgelegt ist, schnell Prototypen von Lösungen zu erstellen, diese zu testen, davon zu lernen und direkt zu verbessern. Durch jeden Verbesserungsschritt – oder Iteration – nähert man sich der Problemlösung an. Durch diese iterative Vorgehensweise ist Design Thinking besonders geeignet, sich mit neuen und unbekannten Situationen auseinanderzusetzen.

Nicht zuletzt ist Design Thinking auch interdisziplinär und bricht mit dem Silo-Wissen vergangener Tage. Ein Beispiel: Hinter jeder juristischen Fragestellung, mit der wir Juristen uns befassen, steht ein Problem aus dem echten Leben – sei es ein wirtschaftliches, eines aus der Produktion oder ein Ehestreit. Idealerweise nehmen beim Design Thinking Stakeholder von allen beteiligten Fachdisziplinen an der Problemlösung teil. Wenn wir bei streamlaw beispielsweise in einer Rechtsabteilung den immerwährenden Konflikt mit dem Einkauf lösen möchten, sprechen wir nicht nur mit der Rechtsabteilung, sondern nehmen einen universellen Blick ein.

In der Juristerei gab es seit Jahrzehnten keine ernstzunehmenden Innovationen. Design Thinking ist eine Methode, mit der Juristen die Wirksamkeit und Zukunftsfähigkeit ihres Tuns stärken können. Seien es die Arbeitsabläufe in einer Kanzlei, der Service am Mandanten oder das gesamte Geschäftsmodell. Vorreiter unter Juristinnen und Juristen ist diesbezüglich Margaret Hagen von der Stanford Law School. Wichtig ist aber: Design Thinking ist EINE Methode der Problemlösung und Innovation – und es gibt einige davon. Ich halte nichts davon, eine einzelne Methode als Allheilmittel zu preisen. Aber den meisten Juristen würde eine gesunde Portion Nutzerzentriertheit, iterativer Arbeitsweise und Interdisziplinarität gut zu Gesicht stehen.

Nico Kuhlmann: Astrid und Du veranstalten nun im November in Frankfurt mit dem Retreat einen Legal Design Jam. Was ist das für eine Veranstaltung?

Tamay Schimang: Wie sich vielleicht an meiner Antwort auf die erste Frage zeigt, ist es schwer, das Thema Design Thinking abstrakt zu vermitteln. Man muss es erleben. Ich habe auch erst wirklich den Zugang dazu bekommen, als ich an einem Design Thinking BarCamp in Hannover teilgenommen habe – natürlich hatte ich vorher sämtliche einschlägige Literatur gelesen, aber verstanden habe ich vieles erst beim Tun und vor allem beim Austausch mit erfahrenen Design Thinkern.

Genau dieses Erlebnis wollen wir mit dem Retreat vermitteln. Anfang November durchlaufen die Teilnehmer über fast zwei Tage in gemischten Teams den Design Thinking-Prozess und werden dabei von den erfahrensten Legal Design Thinkern Europas betreut.

Nico Kuhlmann: Wer sollte am Retreat teilnehmen? Brauchen die Teilnehmenden irgendwelche Vorkenntnisse?

Tamay Schimang: Vorkenntnisse braucht es nicht. Das Programm ist so aufgebaut, dass die Teilnehmer schrittweise durch den Prozess geführt werden. Insofern kann Jede und Jeder teilnehmen und wir hoffen auf ein möglichst buntes Teilnehmerfeld aus Anwältinnen und Anwälten, Unternehmensjuristen, Nichtjuristen, Studierenden, Startups-Unternehmern und vielen anderen. Alle Teilnehmenden sollten Spaß an der Lösung von Problemen haben und sich nicht mit unfertigen Lösungen zufrieden geben, nur weil wir das schon immer so gemacht haben.

Eine Einschränkung gilt jedoch: Der Retreat ist auf 70 Teilnehmende begrenzt und wir behalten uns daher vor, eine Auswahl zu treffen. Damit das Teilnehmerfeld möglichst heterogen bleibt, haben wir ein “Kontingent” für jede Teilnehmergruppe: Unternehmen, Kanzleien, Universitäten, Startups und so weiter. Jede der Gruppen soll vertreten sein, aber keine der Gruppen soll deutlich überwiegen.

Nico Kuhlmann: Wird dann vor Ort allein oder in Gruppen gearbeitet? Und wie finden sich gegebenenfalls die Gruppen zusammen?

Tamay Schimang: Die Teilnehmenden werden in Gruppen zu fünf bis sieben Personen aufgeteilt und von ein bis zwei Workshop-Leitern betreut. Die Veranstaltung wechselt immer wieder zwischen Einzelarbeit, Paar- und Gruppenarbeit sowie gemeinsamer Arbeit im Plenum. Wir planen derzeit, die Gruppen zusammenzustellen und es nicht dem Zufall zu überlassen. Es ist wichtig, jede Gruppe möglichst heterogen zu gestalten.

Nico Kuhlmann: Welche konkreten Fragen sollen besprochen werden? Gebt Ihr die Probleme vor oder können die Teilnehmenden Vorschläge machen?

Tamay Schimang: Alle Teilnehmenden haben die Möglichkeit, uns vorab ihre Themen zu schicken – wir haben hierzu schon einigen Input bekommen. Wir werden die Einsendungen konsolidieren und darauf einen Pool von Fragestellungen entwerfen, aus dem jede Gruppe wählen kann. Natürlich kann sich jede Gruppe auch auf ein völlig anderes Thema einigen, sofern sie dass in der knappen vorgegeben Zeit hinbekommen.

Wir haben aber auch noch ein paar Themen in der Hinterhand, wie beispielsweise das Design von Datenschutzerklärungen oder die Interaktion zwischen Mandant und Anwalt.

Nico Kuhlmann: Wer sind die Referentinnen und Referenten? Und auf welcher Sprache wird die Veranstaltung stattfinden?

Tamay Schimang: Wir haben unfassbares Glück gehabt mit unseren Expertinnen und Experten. Zum Hintergrund: Während in Deutschland das Thema Legal Design Thinking noch recht jung ist, sind andere europäische Länder schon Meilen weiter. Finnland und die Niederlande muss man in Europa als führend ansehen. Aus diesen Ländern kommen auch sechs unserer Expertinnen und Experten. Daneben kommen sie aus Italien, Spanien, Deutschland und – nicht ganz so europäisch – Kanada. Teilweise haben unsere Expertinnen und Experten schon über zehn Jahre Erfahrung im Bereich Legal Design Thinking. Ich möchte jetzt nicht alle Namen aufzählen, die kann man sich aber unter retreat.legal ansehen.

Die dominierende Sprache der Veranstaltung wird dementsprechend Englisch sein – wobei wir versuchen werden, ein oder zwei Gruppen auf Deutsch zu führen.

Nico Kuhlmann: Was ist für Euch das Ziel des Retreat? Was sollen die Teilnehmenden von der Veranstaltung mitnehmen?

Tamay Schimang: Unsere Teilnehmenden sollen Erfahrungen mitnehmen und eine konkrete Lösung. Wir möchten uns explizit von anderen Konferenzen und Kongressen abheben. Unser Ziel ist: Wer am Retreat teilgenommen hat, kann am Montag danach auf den Ergebnissen des Retreats aufbauen und hat damit den ersten Schritt zu einer Lösung eines tatsächlichen Problems getätigt.

Nico Kuhlmann: Wie hoch sind die Teilnahmegebühren und gibt es vergünstigte Tarife für Studierende und Referendare? Und wo kann man sich anmelden?

Tamay Schimang: Für Rechtsanwälte und Teilnehmer aus Unternehmen kostet die Teilnahme 849 EUR. Damit decken wir vor allem die Kosten der Anreise und Unterkunft der Expertinnen und Experten sowie die üblichen Kosten einer solchen Veranstaltung. Wir selbst verdienen nicht wirklich etwas dabei. Studierende, Referendare und Startup-Unternehmer erhalten einen Sondertarif von 49 EUR. Die Anmeldung erfolgt ganz einfach über unsere Homepage.

Nico Kuhlmann: Lieber Tamay, vielen Dank für das Interview! Ich wünsche Astrid und Dir viel Erfolg für Euren Retreat.