Legal Tech: Überblick und Definition (Wikipedia)

Wikipedia hat diese Woche einen guten Überblicksartikel zu Legal Technology veröffentlicht, der einen Blick lohnt, um einen ersten Überblick über Definition, Potentiale und Entwicklungslinien erlaubt:

Legal Technology, auch bekannt als Legal Tech[1], bezeichnet Software und Online-Dienste, die juristische Arbeitsprozesse unterstützen oder gänzlich automatisiert durchführen. Solche IT-Produkte werden bisher vor allem von Start-ups entwickelt, die das Ziel verfolgen, effizientere Alternativen zu einzelnen Arbeitsschritten oder ganzen Rechtsdienstleistungen zu schaffen.[2] Begünstigt durch wachsende IT-Potenziale und Digital Natives auf dem Arbeitsmarkt[3]steigt die Bedeutung von Legal Technology für die Rechtsberatung seit einigen Jahren stetig.[4]

Definition

Der Oberbegriff Legal Technology beschreibt zurzeit ein weites Spektrum verschiedener IT-Produkte: Sie eint der gemeinsame Bezug zu Rechtsdienstleistungen; wie und in welchem Maße sie dabei Anwälte unterstützen oder gar ersetzen, unterscheidet sie hingegen drastisch.[5][6] Der Rechtsprofessor Oliver Goodenough beispielsweise differenziert zwischen so genannten 1.0-, 2.0- und 3.0-Anwendungen.[7]

Legal-Technology 1.0

Erstere bezeichnen vor allem Software zur Büroorganisation, die Anwälte in ihren bisherigen Arbeitsabläufen lediglich assistiert. Teilweise ist auch die Rede von support-process solutions.[8] Angesprochen sind damit beispielsweise verhältnismäßig etablierte IT-Systeme zur digitalen Dokumentenverwaltung, Rechnungslegung sowie Buchhaltung. Ergänzt wird dieses klassische Repertoire neuerdings durch diverse Online-Dienste, die etwa sichere Webkonferenzen mit Mandanten ermöglichen oder das Outsourcing kanzleiinterner Aufträge erleichtern.[9]

Im konventionellen Sinne beschreibt Legal Technology ferner juristische Fachdatenbanken zur Rechtsrecherche wie Beck-Online. Auf dieser Stufe von Legal-Tech-Angeboten bewegen sich ferner IT-gestützte Fortbildungsmedien (Legal Education) wie Webinare und Video-Anleitungen.[10]

Hinzu kommen auf Ebene der 1.0-Produkte seit jüngerem E-Commerce-Portale, über die zunehmend standardisierte Formen menschlicher Rechtsberatung vertrieben werden. Diese haben sich zum Teil darauf spezialisiert, das Angebot einer ganz bestimmten Kanzlei dafür zu vermarkten, eine bestimmte Art von Ansprüchen in Massenverfahren durchzusetzen, beispielsweise die Entschädigungsansprüche bei Flugunregelmäßigkeiten nach der Fluggastrechte-VO.[9]

Andere Unternehmen haben demgegenüber einen regelrechten Online-Marktplatz eröffnet, auf dem eine Vielzahl von Anwälten ein durch alle Rechtsgebiete gefächertes Spektrum Beratungsleistungen anbieten kann. Zu den ältesten Plattformen dieser Art zählen im deutschen Raum etwa anwalt.de, 123recht.net sowie frag-einen-anwalt.de, die die inserierten Rechtsdienstleistungen nicht weiter tariflich oder thematisch eingrenzen, sondern eher wie Branchenbücher aufgebaut sind.[9] Alternativ dazu formieren sich Portale wie Legalbase und Jurato, auf denen nur vordefinierte Rechtsprodukte zu Festpreisen angeboten werden können.[11]

Legal-Technology 2.0 (automatisierte Rechtsdienstleistungen)

2.0-Dienste verfolgen demgegenüber das Ziel, juristische Arbeitsschritte und Kommunikationsschritte selbstständig anstelle eines menschlichen Sachbearbeiters zu erledigen. Wo sie erfolgreich implementiert werden, können sie sich deutlich disruptiver auf den Rechtsdienstleistungsmarkt auswirken. Sie werden deshalb teilweise auch als substantive law solutions bezeichnet.[8]

Anwendungsfelder der 2.0-Technologien sind bisher insbesondere die E-Discovery, die Online-Dispute-Resolution und die automatische Erstellung juristischer Dokumente wie Verträge und Klageschriften: Dabei dienen E-Discovery-Tools etwa dazu, in der Due Diligence die anwaltliche Prüfung relevanter Verträge zu übernehmen. Online-Plattformen zur Dispute-Resolution wurden bislang vor allem in den Vereinigten Staaten und Frankreich eingerichtet, um Auseinandersetzungen mit geringem Streitwert effektiv schiedsgerichtlich beizulegen.[12] Automatisierungsmechanismen für den anwaltlichen Schriftverkehr kommen in zwei Geschäftszweigen zum Einsatz: als Kanzleisoftware im B2B-Bereich und zur Verwertung von Eingabedaten, die Verbraucher auf Online-Plattformen hinterlassen. Ein Beispiel für derartige Kanzleisoftware ist der DocCreator der Audi AG, mit dem diese wesentliche Verträge teil-automatisch generiert.[13] Im B2C-Bereich kommt eine weitreichende Automatisierung etwa schon auf Web-Portalen zum Tragen, die Entschädigungsansprüche von Flugreisenden anhand von Einträgen in einer Eingabemaske prüfen, ausgehend davon Kunden Factoring-Angebote unterbreiten und die factorierten Forderungen schließlich mit automatisch generierten Schriftsätzen verfolgen.[9]

Legal-Technology 3.0 (smart contracts und künstliche Intelligenz)

Noch folgenreicher als 2.0-Anwendungen werden 3.0-Technologien eingestuft.[7] Hiermit sind IT-Lösungen angesprochen, die es ermöglichen, nicht bloß einzelne Arbeitsschritte oder simple, eng abgegrenzte Rechtsdienstleistungen autonom zu bewältigen, sondern das Berufsbild menschlicher Anwälte grundlegend zu verändern. Da es sich hierbei zugleich um die anspruchsvollste Gruppe juristischer IT-Anwendungen handelt, ist ihre Entwicklung bisher noch am weitesten von der Marktreife entfernt.[8][14]

Ob und, wenn ja, ab wann entsprechende Vorhaben die anwaltliche Praxis beeinflussen, ist noch ungewiss.[6] Etliche Unternehmen fokussieren ihre Entwicklungsarbeit jedenfalls einerseits darauf, eine maschinenlesbare Sprache für rechtliche Dokumente wie Verträge (smart contracts) zu schreiben[8], und andererseits darauf, ein virtuelles, mit künstlicher Intelligenz ausgestattetes Substitut für Anwälte zu programmieren; ein erstes Zwischenergebnis stellt das auf IBM Watson gestützte Programm ROSS Intelligence dar, wenngleich seine Funktionalität noch sehr begrenzt ist.[15]

Ziele und Potenziale

Soweit Legal-Tech-Produkte Anwälte nicht nur in ihrer bisherigen Arbeit unterstützen, sondern Rechtsdienstleistungen teilweise oder vollständig automatisieren, wird ihnen das Potenzial zugesprochen, die Funktionsweise der juristischen Branche im Ganzen zu beeinflussen.[16]

Anlass zu dieser Erwartung geben die immensen Effizienzsteigerungen, die man sich davon verspricht, in Standardverfahren den nötigen menschlichen Arbeitseinsatz zu reduzieren und damit unter anderem die Kosten, die Dauer und nicht zuletzt die Fehleranfälligkeit zu senken.[1]

Rechtsdienstleister erhoffen sich hiervon insbesondere einen sinkenden Personalbedarf für ihr derzeitiges Leistungsspektrum. Mandanten erwarten ihrerseits, dass sich der mit Legal-Tech realisierbare Effizienzzuwachs künftig in den Rechtsberatungsgebühren widerspiegelt.[17] Makroökonomisch prognostiziert daher beispielsweise Prof. Breidenbach eine „Industrialisierung“ des Rechtsdienstleistungsmarktes prognostiziert, bei der juristische Standardleistungen künftig preiswert automatisiert erbracht werden, während Anwälte sich eher auf Boutique-Lösungen für Spezialfälle konzentrieren.[18]

Als Langzeiteffekt verspricht man sich hiervon, breiteren Schichten von Verbrauchern und Kleinunternehmern einen durchgängig bezahlbaren Zugang zu Rechtsbeistand zu verschaffen.[19] Einer Studie der American Bar Association fehlt ein solcher bisweilen noch 80% der U.S.-Bevölkerung.[20] In Deutschland geht man von bis zu 70% der Bevölkerung aus.[21]

Langfristig könnte Legal Technology ferner dazu beitragen, das Gerichtswesen effizienter und Entscheidungen objektiver zu gestalten. Mit der Online-Dispute-Resolution haben dahingehende Bemühungen bereits die Schiedsgerichtsbarkeit erfasst.

Entwicklung

Wie andere Branchen hat die juristische Praxis ab den 1970er Jahren PCs in ihre Arbeitsabläufe integriert. Machte man anfangs vorrangig von Textverarbeitungsprogrammen Gebrauch, wurden ab der Jahrtausendwende zunehmend anwaltsspezifische Assistenzsoftware entwickelt, darunter Online-Datenbanken zur Rechtsrecherche und Kanzleiorganisationssysteme. Im Übrigen ließen technologische Innovationen anwaltliche Arbeitsabläufe bis vor wenigen Jahren jedoch unberührt.[5][22]

Erst seit ca. 2009 werden zunehmend automatisierende Legal-Tech-Anwendungen entwickelt.[23] Seitdem wuchs allein die Zahl der Start-ups in der Branche bis Mitte 2016 weltweit allein auf 550 Unternehmen, die meisten davon in den Vereinigten Staaten.[6] In Deutschland wurden 2016 bisher nur 33 gelistet[24]; im Vorjahr waren es allerdings erst 20[25]. Eine aktuelle Übersicht über alle relevanten Unternehmen der Branche bildet der Techindex Law der Stanford University ab.[26]

Merklich steigt ab 2015 auch das Interesse der Rechtsdienstleister insgesamt an Austausch und Berichterstattung über Legal-Tech-Lösungen.[27] Inzwischen existieren mit Veranstaltungen wie der Bucerius Herbsttagung, der Berlin Legal Tech und dem Kölner Anwaltszukunftskongress diverse fest installierte Treffpunkte der wachsenden Branche.[28]