Legal Tech: Gefahr oder Chance für Verbraucher, Justiz und Rechtsstaat?

Mit diesem spannenden Thema beschäftigte sich auf Einladung des “Rechtsstandort Hamburg” und des Bucerius Center of the Legal Profession am 23. Januar 2018 hochkarätige Referenten in Hamburg. Die Auswahl der Referenten machte Mut auf eine gehaltvolle Veranstaltung. Neben Herrn Markus Hartung, Direktor des Bucerius Center of the Legal Profession, stiegen aus der Politik, Senator Dr. Till Steffen, Präses der Justizbehörde Hamburg, und Dr. Dirk Behrendt, Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung des Landes Berlin, gut informiert und mit klarem Blick für Chancen und Herausforderungen in den Ring. Die Sicht von Wirtschaftsverbänden wurde von Prof. Dr. Stephan Wernicke, Chefjustiziar Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK), vermittelt. Prof. Dr. Philipp Schade, Professor für Mathematik Statistik und Wirtschaftsinformatik an der EBZ Business School, unterfütterte die Veranstaltung mit einer erfrischenden Analyse der Auswirkungen des Einsatzes von Algorithmen im Lebensversicherungssektor.

Senator Steffen eröffnete mit dem – zumindest in Legal Tech-Kreisen – bekannten Bonmot von Niklas Luhmann: “Recht und Datenverarbeitung haben miteinander genauso viel zu tun wie Autos und Rehe: normalerweise gar nichts, nur manchmal stoßen sie zusammen.” Am Ende des Abends war klar, Digitalisierung und Recht haben durchaus viel miteinander zu tun – und das “lässt keinen kalt“, wie sich Markus Hartung treffend ausdrückte. “Legal Tech ist wie eine Boy Group – immer, wenn das Thema auf die Bühne kommt, ist das Gekreische groß.” Das trifft es gut. Während keiner mehr ernsthaft bestreitet, dass Legal Tech und Digitalisierung eines der zentralen Themen für die Rechtsbranche sind, sind Gemütszustände, Wissenstände, Interessen und Wahrnehmungen noch sehr unterschiedlich. Das zeigten die Rede- und Diskussionsbeiträge an diesem Abend exemplarisch.

Trotz aller Diversität (und diplomatisch bemäntelter Meinungsunterschiede) ließen sich klare, übereinstimmende Thesen aus den Beiträgen der Referenten ableiten:

  1. Legal Tech stärkt den Zugang zum Recht. In Deutschland gibt es eine Rechtsdurchsetzungs- und damit auch eine Gerechtigkeitslücke. Je nach Lesart kommen – so Markus Hartung in seinem Vortrag- zwischen 70-80% begründeter Ansprüche nicht zur Durchsetzung, da der Verbraucher den Gang zum Anwalt bzw. zu Gericht scheue. Prof. Wernicke wusste zu berichten, dass sich die Fälle vor Zivilgerichten in den letzten Jahren von 180.000 auf 130.000 reduziert habe. Ein deutliches Indiz dafür, dass Etwas beim Zugang zum Recht schiefläuft. In diese Lücke, die, wie Hartung richtigerweise betonte, bereits lange vor Legal Tech bestand, treten nun Legal Tech-Startups, wie Flightright (Senator Behrendt kündigte einen Besuch dort für Februar an), um Verbrauchern zu ihrem Recht zu verhelfen. Prof. Wernicke wies darauf hin, dass ein Zugangsproblem auch für Unternehmen bestehe. Auch für diese sei es bei EUR 50.000 häufig nicht sinnvoll, in ein streitiges Verfahren zu treten. So betrachtet ist Legal Tech eine große Chance auf ein Mehr an Zugang zum Recht.
  2. Wenn es dem staatlichen Rechtsystem durch Digitalisierung nicht gelingt, ein Mehr an Zugang zum Recht zu schaffen, wird die Rechtssetzung in immer stärkerem Maße privatisiert werden. Die Rechtssetzungslücke wird, wie bspw. im E-Commerce-Bereich bereits geschehen, durch private Anbieter geschlossen, die über Crowd-Entscheidungen, Online-Streitbeilegung oder andere Streitbeilegungsmechanismen (Stichwort: PayPal-Law) eine Rechtsdurchsetzung außerhalb der staatlichen Gerichte garantieren. Dieser Trend ist – nach den Aussagen der Referenten –  schon jetzt massiv zu beobachten. Ohne “neue” Angebote seitens der Justiz wird sich dieser Trend verstärken. Ob Masse- bzw. Sammelklageverfahren und/oder Ombudsmänner hier eine (ergänzende) Lösung sein können, wurde auf dem Panel unterschiedlich bewertet.
  3. Legal Tech bleibt. Es bringt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Sowohl seitens der Politik, der Wirtschaftsverbände als auch der Anwaltschaft ist klar, dass Legal Tech “da” ist und nicht mehr “weggeht”. Die beiden Minister sind sich darin einig, dass es viele Prozesse bei der Justiz durch Digitalisierung (Stichwort: E-Akte) effizienter und kostengünstiger gestaltet werden können und müssen. Auch die Einrichtung einer länderübergreifenden Arbeitsgruppe der Justizminister zum Thema Legal Tech (unter der tatkräftigen Führung von Berlin und Baden-Württemberg) zeigen, dass eine ernsthafte und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema gewollt ist. Allerdings – und auch dies bemerkt Herr Hartung treffend – geht in der staatlichen Justizpflege vieles “im Schneckentempo”. Wo es bereits an den elementaren Zutaten für eine Digitalisierung, wie bspw. eine elektronische Akte, fehlt, würde man sich wünschen, dass der Schalter energisch richtig “digitale Transformation” umgelegt würde.
  4. Die Digitalisierung der Rechtsbranche steht ganz am Anfang. Wenn man die Beiträge der Referenten und die zarten Pflänzchen der privaten und staatlichen Digitalisierung betrachtet, wird klar, dass man ganz am Anfang der Digitalisierungsreise steht. Es gibt noch wenig Erfolge. Wenig Vorzeigbares. Gerichte und Anwaltschaft kämpfen bereits gleichermaßen mit dem elektronischen Datenaustausch (Stichwort: beA-Debakel). Kanzleien und Rechtsabteilungen beginnen nur zögerlich, auf den Zug der Digitalisierung aufzuspringen.
  5. Datenschutz und -sicherheit wird ein großes Thema der nächsten Jahre sein. So richtig die Erkenntnis ist, dass Legal Tech nicht mehr weggehen wird, so richtig ist auch, dass die sichere Datenverarbeitung und -verwaltung ein zentrales Thema der Rechtsbranche werden wird. Bei diesem wichtigen Thema wäre es durchaus angebracht, wenn rechtsbranchenweite Lösungen diskutiert und gefunden werden.
  6. Es bedarf Mut zur Veränderung. Digitalisierung führt dazu, dass bewährte Konzepte nicht mehr funktionieren. Während Justiz und Rechtspflege im Wesentlichen noch so funktionieren, wie vor 50 Jahren, kommt es durch Digitalisierung zu einem veränderten Nachfrageverhalten nach Rechtsdienstleistungen, Druck von privaten Anbieten, veränderten Arbeitsprozessen und -weisen, einer Automatisierung, etc. Dies wird zu einem Anpassungsbedarf und Veränderungsdruck führen. Je mutiger und proaktiver die digitale Transformation angegangen wird – und das erfordert durchaus Mut – desto eher kann Politik und Rechtsbranche die Zukunft mitgestalten. Der Wille war deutlich bei allen Referenten zu spüren: Man möchte gestalten – auch um etwaige “Schattenseiten” von Legal Tech frühzeitig in Griff zu bekommen.
  7. Regulierung: vielleicht. Während es zu Ende des letzten Jahres einige Aufregung um Aussagen von Senator Behrendt gab, der eine Regulierung von Legal Tech in einem Interview mit dem Handelsblatt ins Spiel brachte. In der heutigen Diskussion war Senator Behrendt ersichtlich darum bemüht, den Eindruck zu zerstreuen, dass er eine Regulierung für unbedingt notwendig halte. Auch die Einrichtung der länderübergreifenden Arbeitsgruppe habe zunächst nur das Ziel der gründlichen Analyse und werde nur dann, wenn tatsächlich ein Bedarf bestehe, eine Regulierung andenken. Möglichen Regulierungsbedarf sah der Senator bei Fragen der Transparenz (Wie funktioniert ein bestimmtes Angebot?) und beim Datenschutz.

Am Ende kann man festhalten: Legal Tech ist eine große Chance, insbesondere wenn es darum geht, Verbrauchern einen verbesserten Zugang zum Recht zu geben. Die Chancen überwiegen wohl die Risiken, wenn man die Redebeiträge des heutigen Abends betrachtet. Natürlich gibt es Risiken, z.B. im Bereich Datenschutz oder unseriöse Anbieter, die es zu adressieren gibt. Diese Analyse sollte dazu beflügeln, im Jahr 2018 für Verbraucher, Justiz und Rechtsstaat den “Schalter” umzulegen und das Thema Legal Tech zügig anzugehen. Diese Veranstaltung stimmt zuversichtlich, dass dies tatsächlich geschehen könnte.