Legal Tech revolutioniert den Zugang zum Recht

Beim Thema Zugang zum Recht denken deutsche Juristen hauptsächlich aus finanzieller Perspektive an die regulierten Kosten der Erstberatung und die staatliche Prozesskostenhilfe oder aus dogmatischer Sicht an den Justizgewährungsanspruch aus dem Grundgesetz. In der internationalen Diskussion wurde zuletzt ein technologischer Aspekt in die Diskussion eingeführt. Legal Tech soll helfen, den Zugang zum Recht zu verbessern.

Trotz über 50.000 Anwaltskanzleien und zirka 160.000 Anwältinnen und Anwälten landet in Deutschland ein großer Anteil von rechtlichen Fragen und Problemen nicht bei einem Juristen. Oft sind Familienmitglieder und Freunde der erste und letzte Anlaufpunkt. Zusätzlich wird vermehrt im Internet nach Antworten gegooglet. Dieser nicht erschlossene Markt für Rechtsdienstleistungen soll bis zu 15 Milliarden Euro betragen. An dieser Stelle setzen einige Innovationen an.

Der Zugang zum Recht kann nach der Client Service Chain von Richard Susskind in drei Phasen unterteilt werden. Der Erkenntnis, dass ein rechtlich relevanter Sachverhalt vorliegt (recognition), der Auswahl des Problemlösers (selection) und die eigentliche Dienstleistung (service).

Recognition

Der Bereich mit dem größten Verbesserungspotenzial ist die Erkenntnisphase. In vielen Situationen ist die rechtliche Dimension offensichtlich. Nach einem Verkehrsunfall ist den meisten Beteiligten bewusst, dass juristische Konsequenzen drohen. Aber oft werden bestehende Rechte und Pflichten nicht erkannt und die wenigsten Personen haben ständig einen Rechtsanwalt an ihrer Seite, der einen entsprechenden Hinweis geben kann. Bei einer Fehlfunktion der Heizung im Winter beispielsweise, denken die wenigsten Mieter sofort an die Minderung der Miete. Wenn die gekaufte Ware nach einigen Monaten nicht mehr funktioniert, kommt den meisten Verbrauchern nicht das Sachmängelgewährleistungsrecht und schon gar nicht die Beweislastumkehr nach § 476 BGB in den Sinn.

Der Einsatz von Technologie kann diese erste Phase revolutionieren. Viele Geräte sind mittlerweile mit verschiedensten Sensoren ausgestattet und mit dem Internet verbunden. Das dazugehörige Schlagwort ist Internet der Dinge. Neben dem Auto, dass unzählige Daten erfasst und den Fahrer beispielsweise auf Geschwindigkeitsüberschreitungen aufmerksam macht, wird auch die Wohnung immer vernetzter. Beim sogenannten Smarthome können das Licht und die Jalousien ferngesteuert werden und die Waschmaschine schaltet sich automatisch nachts ein, wenn der Strom billig ist. In Zukunft könnte es durchaus denkbar sein, dass die Heizung bei einer Fehlfunktion auf die Möglichkeit der Mietminderung hinweist. Da eine Verbindung mit dem Internet besteht, sucht das Smarthome auch gleich aus den entsprechenden Datenbanken die durchschnittlich zuerkannte Höhe der Minderung heraus und bereitet eine E-Mail vor, die nur noch abgeschickt werden muss.

Außerhalb der Wohnung und des Autos könnte das Smartphone zum allgegenwärtigen rechtlichen Hinweisgeber werden. Durch das Mikrofon und andere Sensoren kann bereits vieles erfasst werden. Zusätzlich hat es Zugriff auf die Onlinekonten und damit auf das Kaufverhalten im Internet. Wenn sich dann in einer Textnachricht über eine defekte Ware beschwert wird oder ein entsprechender Kommentar in einem Gespräch fällt, könnte das Smartphone einen Hinweis auf die Rechtslage geben.

Selection

Nachdem ein rechtliches Problem erkannt wurde, dass nicht selbstständig gelöst werden kann, muss ein geeigneter Anwalt gefunden werden. Das Auswahlverfahren ist oft unstrukturiert und von einem großen Informationsgefälle gekennzeichnet. Durch Branchenverzeichnisse und Kanzleihomepages sowie der Werbung mit Interessengebieten und Fachanwaltstiteln wird die Transparenz ein wenig erhöht.

Trotzdem besteht auch bei der Auswahl des Anwalts noch Verbesserungspotenzial. Denkbar ist eine zentrale Plattform auf der Anwälte ihre Dienste anbieten. Neben den Rechtsgebieten und der geographischen Nähe könnte dieser Marktplatz Angaben zur durchschnittlichen Bearbeitungszeit und Fremdsprachenkenntnisse sowie Bewertungen von anderen Mandanten enthalten. Für Ärzte ist eine solche Plattform in Deutschland mit Jameda bereits etabliert und hat mehrere Millionen Nutzer im Monat. Auch die Juristen ziehen nach. Bei 123recht.net kann bereits seit dem Jahr 2000 nach einem geeigneten Anwalt gesucht werden. Bei Jurato kann der Rechtssuchende sein Problem online beschreiben und Anwälte unterbreiten anschließend individuelle Beratungsangebote. Der Kunde kann informiert zwischen verschiedenen Anwälten auswählen. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert die Plattform von Advocado. Durch Die Nutzung solcher Online-Marktplätze findet ein Rechtsuchender schneller und vor allem transparenter einen geeigneten Anwalt.

Passende Ergebnisse beim Zusammenführen von Problemen und Problemlösern können diese Plattformen aber nur erbringen, wenn eine kritische Masse an Anwälten registriert und alle Rechtsgebiete abgedeckt sind. Aufgrund der geringen Marktplatzzutrittsschranken sind außer Technophobie aber keine Gründe ersichtlich, warum Rechtsdienstleister nicht auch über den Weg der Onlinevermittlung ihre Dienste anbieten sollten.

Service

Die dritte Phase beim Zugang zum Recht ist die Dienstleistung, die das rechtliche Bedürfnis befriedigt. Diese Rechtsdienstleistung wird traditionell von Rechtsanwälten erbracht. Besonders bei einer strategisch-taktischen Beratung ist ein erfahrener Anwalt noch unverzichtbar. Aber es gibt auch Situationen, in denen technologische Ansätze schneller und billiger sind, als der Gang zum Anwalt. Dies kann unter anderem der Fall sein, bei der Vermittlung von abstraktem Wissen, bei der Erstellung und Überprüfung von Standarddokumenten und bei der Beilegung von einfachen Streitigkeiten.

    Abstraktes Wissen. Der Rechtsuchende braucht manchmal nur eine Auskunft über abstraktes Wissen. Beispielsweise unter welchen Voraussetzungen der Mieter die Miete erhöhen darf oder wie eine Patientenverfügung wirksam aufgesetzt wird. Bereits seit einiger Zeit sind deutsche Gesetze und Verordnungen frei und kostenlos im Internet verfügbar. Seit diesem Jahr hat der Staat eine weitere Bringschuld eingelöst und ein zentrales Internetportal eröffnet, dass die Urteile der deutschen Bundesgerichte sammelt und zur Verfügung stellt. Der unmittelbare Mehrwert dieser Einsichtmöglichkeiten wird für den durchschnittlichen Nicht-Juristen aber überschaubar sein.

Darum bieten verschiedene Stellen im Internet aufbereitete Informationen für einzelne Bereiche an. Das Justizministerium informiert auf ihrer Homepage über rechtliche Aspekte bei der Patientenverfügung und der Deutsche Mieterbund gibt im Internet einen detaillierten Überblick zu den wichtigsten Mietrechtsfragen. Bei 123recht.net, dem „Dinosaurier“ der deutschen Juraplattformen, sind neben Foreneinträgen auch über 10.000 Ratgeberbeiträge von Anwälten zu einer Vielzahl von Themen verfügbar. Im Buchhandel sind solche Rechtsratgeber in gedruckter Form bereits seit langer Zeit bekannt. Was fehlt ist eine zentrale Anlaufstelle im Internet für verständliche Rechtsinformationen. Eine Art Wikipedia für Jura. Eine Plattform für abstraktes Rechtswissen in aufbereiteter Form.

Aber eventuell wird dieser Zwischenschritt auch direkt übersprungen. Die Wikipedia verzeichnet seit einiger Zeit rückläufige Zugriffszahlen. Bei konkreten Einzelfragen wird nicht mehr ein gesamter Artikel aufgerufen, sondern einfach Siri oder Google Now gefragt. Diese sprachgesteuerten Suchmaschinen durchsuchen dann unter anderem die Datenbank von Wikipedia und kommunizieren das Suchergebnis unmittelbar an den Fragenden zurück. An einer vergleichbaren Anwendung für juristische Fragen arbeitet zur Zeit das US-amerikanische Legal-Tech-Startup ROSS Intelligence. Auf Basis des IBM-Computerprogramms Watson wird eine Suchmaschine entwickelt, die mit Unmengen an rechtlichen Daten gefüttert wird und dann Anwältinnen und Anwälten die Recherche erleichtern soll. Eine vergleichbare Anwendung für den Nicht-Juristen ist zumindest denkbar.

    Dokumente. Bei einem Vertragsschluss oder anderen rechtlich relevanten Vorgängen werden entsprechende Dokumente benötigt. Ein schriftlicher Vertrag wird dabei zur Zeit entsprechend der Bedeutung des Geschäfts entweder aus dem Internet heruntergeladen oder von einem Anwalt erstellt. Der eine passt oft nicht auf die Besonderheiten des Einzelfall und die Erstellung des anderen kostet Zeit und Geld.

Die Lücke dazwischen wird gerade durch Anbieter von computergenerierten Dokumenten geschlossen. In den USA erbringt das Onlineportal LegalZoom diese Dienstleistung außerordentlich erfolgreich. In den letzten 10 Jahren hatte das Internetunternehmen mehr als zwei Millionen Kunden und ist mittlerweile bekannter als jede Anwaltskanzlei. In Deutschland wird diese Geschäftsidee seit 2012 von Smartlaw umgesetzt. Privatleute, Vermieter und Unternehmer haben dort Zugriff auf eine Vielzahl von Verträgen und rechtlichen Erklärungen. Diese werden nach der Angabe der relevanten Daten automatisch auf die individuellen Bedürfnisse maßgeschneidert. Das computergenerierte Dokument ist vergleichsweise günstig und kann sofort ausgedruckt und verwendet werden. Als Bonus wird der Vertragsverwender informiert, wenn sich die Rechtslage ändert und das Dokument angepasst werden muss.

Wird ein Vertrag von der Gegenseite vorgelegt, kann in den USA beim Onlinedienstleister LawGeex das Dokument hochgeladen und analysiert werden. Der Vertrag wird mit tausenden anderen Verträgen aus der Datenbank verglichen. Die Rückmeldung enthält Hinweise auf ungewöhnliche Klauseln und deren Bedeutung. Es bleibt abzuwarten, ob diese Geschäftsidee in Deutschland aufgrund der restriktiven AGB-Kontrolle einen relevanten Anwendungsbereich haben wird. Die Vorstellung, dass ein Mieter vor der Vertragsunterzeichnung das Dokument mit dem Smartphone abfotografiert und sofort eine Analyse der Klauseln enthält, klingt allerdings verlockend.

Mit Smart Contracts steht bereits die nächste Entwicklungsstufe vor der Tür. Dabei handelt es sich um Verträge in digitaler Form, welche computerbasiert kontrolliert und die Regelungen automatisiert ausgeführt werden. Die Mietminderung bei einem solchen Vertrag würde direkt und ohne Eingreifen des Mieters oder eines Anwalts gegenüber dem Vermieter erklärt und der Zahlungsauftrag entsprechend angepasst. Die Beteiligten werden lediglich kurz benachrichtigt. Die Entwicklung steckt noch in den Kinderschuhen, aber einige Unternehmen stehen bereits in den Startlöchern, um diesen Markt zu bedienen.

    Streitbeilegung. Rechtliche Konflikte sind oft vielschichtig und verlangen nach einem erfahrenen Juristen. Andere Streitigkeiten sind überschaubarer und manchmal es geht einfach nur um Geld. Neben langwierigen und kostenintensiven Verhandlungen und Prozessen, erfreuen sich deshalb Streitbelegungsmechanismen im Internet wachsender Beliebtheit. Seit diesem Jahr sind Online-Händler darüber hinaus sogar verpflichtet auf eine entsprechende Plattform der EU zu verlinken.

Bei der Onlinestreitbeilegung von monetären Ansprüchen werden Verfahren angewendet, bei denen die Parteien verdeckt Beträge eingeben, die sie fordern oder zu zahlen bereit sind. Dieses Vorgehen wird double blind bidding genannt und kann mehrere Male wiederholt werden. Bei einer Überschneidung wird ein Mittelwert als Vergleichsbetrag festgelegt. Dieses Vorgehen spart Zeit und Geld.

Ein kommerzieller Anbieter einer Streitbeilegungsplattform für diverse Auseinandersetzungen ist Modria. Das Unternehmen ist eine Ausgründung von Ebay und verzeichnet jährlich mehr als 60 Millionen beigelegte Streitigkeiten. Eine solche Erledigungszahl erreichen deutsche und US-amerikanische Gerichte bei weitem nicht einmal zusammen. Ganz zu schweigen von der im Vergleich langen Dauer der Gerichtsverfahren.

In den USA sind darüber hinaus Angebote beliebt, die webbasiert bei der Scheidung unterstützen. Bei CompleteCase oder Wevorce kann das Ende einer Ehe im Internet vorbereitet werden. Die Anbieter begleiten beide Ehepartner durch die rechtlich notwendigen Schritte und erstellen automatisch sämtliche Dokumente die beim Gericht eingereicht werden müssen. Die Kosten sind ein Bruchstück im Vergleich zur anwaltlich beratenden Scheidung.

Gegen viele dieser Angebote wird es Widerstand geben. Aus datenschutzrechtlicher Perspektive sind einige Geschäftsmodelle ein Alptraum und die Haftungsfrage wird sich stellen. Wenn die Entwicklung in den USA als Anhaltspunkt dienen kann, wird es in Deutschland eine Abmahn- und Klagewelle aufgrund eines angeblichen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz in Verbindung mit dem Wettbewerbsrecht geben. In den USA sind einige dieser Verfahren mit der Anordnung beigelegt worden, dass gegenüber Verbrauchern darauf hingewiesen werden muss, dass die angebotene Dienstleistung nicht den Rat eines Anwalts ersetzt. Es bleibt abzuwarten, ob und wie der Gesetzgeber auf die Möglichkeiten und Gefahren von Legal Tech reagieren wird.

Viele Wege führen zum Recht. Durch den Einsatz von Legal Tech offenbaren sich nun kostengünstige und zeitsparende Möglichkeiten, die das Versprechen des Rechtsstaats mit neuem Leben erfüllen.